Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Rukasz

Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Rukasz

Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Moskwa

Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Moskwa

Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Rukasz

Maciej Kuźmiński: "Every Minute Motherland" - © Maciej Rukasz

Magazin #3: Wenn die Nacht am tiefsten…

Ein Stück über den Krieg in der Ukraine: Every Minute Motherland von Maciej Kuźmiński und der dazugehörige Dokumentarfilm Fragments of Resilience von Anna Semenova

Von Torben Ibs

Es ist das Stück der Stunde. Every Minute Motherland des polnischen Choreografen Maciej Kuźmiński ist eine Arbeit über die Ukraine oder vielmehr über das Verlassen der Ukraine nach dem russischen Angriff im Februar letzten Jahres, getanzt von einer Kompanie mit polnischen und ukrainischen Tänzer*innen. Der Krieg als Einschnitt, der den Menschen aus der Bahn wirft. Unterbrochene Biografien, die hier im Exil und auf der Bühne zusammenfinden, um gemeinsam danach zu suchen, was fehlt. Was verloren wurde. Wie der Stand ist.

Der Titel verweist auf diesen Zustand der fortdauernden Trauer und Unsicherheit. Jede Minute nagt der Gedanke an das Land, aus dem sie fliehen mussten, an die Menschen, die sie zurückließen. Rund acht Millionen Ukrainer*innen sind nach Polen geflohen, rund 1,5 Millionen leben immer noch im Nachbarland Deutschlands. Vier davon stehen jetzt in Every Minute Motherland auf der Bühne.

Choreograf Kuźmiński kreierte die Kompanie im Sommer 2022 Zusammen mit der ebenfalls geflüchteten ukrainischen Tanzjournalistin Polina Bulat als Produzentin des Stücks castete er vier ukrainische Tänzerinnen und brachte sie mit seiner polnischen Kompanie zusammen. Eigentlich plante er eine Aktualisierung seines Stückes After Before, das zur Flüchtlingskrise 2016 entstanden war. Doch dies hier war anders. Die Ungewissheit war groß, die seelischen Wunden noch frisch und alles ganz nah. Das Tanzen war auch jetzt für ihn alternativlos. Zunächst im Studio in Łodz, dann in dem kleinen polnischen Dorf Dabrova, quasi als Exil im Exil, arbeitete die neu zusammengewürfelte Gruppe im vergangenen Sommer fünf Wochen zusammen, um den Schmerzen auf den Grund zu gehen.

Das Ergebnis ist keine Therapie oder gar Traumabewältigung sondern ein Zeigen der Wunde. Die Tänzer*innen nehmen ihren Schmerz, ihre Ängste und ihre Nöte, um sie in Tanz zu transformieren. Keine Reise an die Front, sondern Bilder von Verlust und den Lücken, die es reißt, wenn man gehen muss, ohne zu wollen. Erinnerungen werden beschworen, an Musik, an Lieder an Geschichten, doch gleichzeitig bleibt all dies ungreifbar verborgen hinter einem Schleier – dem Nebel des Krieges. Every Minute Motherland verzichtet auf konkrete Bilder und Situationen, sondern erschafft vieldeutige Metaphern für das, was im Innersten vorgeht, wenn die Zukunft zwar nicht verschwindet, aber doch die Zukunftspläne sich als unerfüllbar darstellen. Es ist im tiefsten Kern eine Meditation über den Schmerz, den der Krieg angerichtet hat und anrichtet, selbst in den Körpern, die nicht an vorderster Front der russischen Artillerie oder  iranischen Drohnen trotzen müssen. Dunkel aber hoffnungsvoll. Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten.

Zugleich ist dieses Stück auch eine politische Ansage. Ein Lebenszeichen der ukrainischen Kultur, die sich eben nicht in die Unsichtbarkeit des fremden Exils zerstreuen lässt, sondern Räume nutzt, sich zeigt und gleichzeitig auch nicht einspannen lässt in das große Rad der Politik. Denn um diese geht es nicht, es geht um die Menschen und ihre Wege, wenngleich die ukrainische nationale Identität, die bedroht wird, nicht zu verleugnen ist. Kuźmiński wehrt sich denn auch dagegen, das Stück rein politisch zu vereinnahmen. Es geht ihm um die Kunst des Weitermachens; um Tanz als Überlebensstrategie. Daher hat auch er alle Pläne über den Haufen geworfen, das Angebot an die ukrainischen Tänzerinnen ausgesprochen und mit mit ihnen gearbeitet. „Ich bin erstaunt, wie viele Bewegungen, die gar nicht von mir sind, es in die Produktion geschafft haben“, erzählt er.

Bei der Musik wird bewusst auf Verfremdungen und Bearbeitungen von Motiven gesetzt. Nur einmal darf die populäre Version eines ukrainischen Volksliedes erklingen, bloß keine Plattheiten, welche die Komplexitäten verkleistern. Auch die Kostüme sind entsprechend schlicht und unbestimmt. Die Körper sollen für sich sprechen und sich ausdrücken. „Egal wie fucked up diese Welt ist. Wir bleiben Tänzer.“

Das sagt er in dem Dokumentarfilm Fragments of Resilience. Die ukrainische Regisseurin Anna Semenova hat die Probenarbeit der Gruppe in Polen mit Kamera und Mikrofon begleitet. „Auch wenn ich physisch in Polen bin, so bin ich doch mit meinen Gedanken immer in der Ukraine“, erzählt eine der Tänzerinnen, die damit auch den Stücktitel auf den Punkt bringt. Eine andere bekennt: „Mein Körper möchte nicht tanzen.“ Wir sehen die Tänzer*innen im Probenraum, bei dem Versuch ihren nun verstreuten Schützlingen via Zoom Tanzunterricht zu geben, beim Wandern übers Land, am Lagerfeuer und immer wieder auch beim Tanzen.

Doch begleitet der Krieg die Gruppe bis in den Probenraum, er ist immer präsent. Die Sorgen um Angehörige, Freunde, Familie. Der Kontakt übers Handy als wichtige Informations- und Lebensader. Der Film zeigt die Erschöpfung, nicht nur die körperliche nach den Proben, sondern die geistige. Die ständige Unruhe, die nagt und zermürbt. Doch die Kunst, das künstlerische Arbeiten kann hier Halt und Ventil bieten. Es ist die Möglichkeit das auszudrücken, was Worte nicht vermögen. Auf den Proben wurde viel geweint, berichtet der Film, dafür ist das Stück umso stärker in seinen ruhigen, aber kraftvollen Bildern. Ein Schuss ins Herz und mahnende Erinnerung an das, was da draußen seit über einem Jahr vor sich geht. Jede Minute.