Magazin #9: Ein spätes Resümee
Why Wait? von Tony Rizzi, eine Tanzperformance über 20 Jahre Tanzkunst-Revolution am Ballett Frankfurt
von Eva-Elisabeth Fischer
Was sieht man, wenn der Tänzer Tony Rizzi gerade nicht tanzt oder sonstwie derwischhaft in Bewegung ist? Richtig: sein umwerfendes Lächeln als Pars pro toto seines Wesens. Während man sich noch über das herzliche Willkommen freut, wird man bereits mitgerissen von einem Worttsunami. Denn Rizzi ist unaufhaltsam mitteilsam. Will sagen, wo er grad steht, was er grad macht und was er erlebt – und das ist immer vieles: als Mensch, als Tänzer, als Choreograf, als Videofilmer und Fotograf. Dabei redet er viel mit den Händen – oder besser mit dem ganzen Körper. Der Mann, denkt man sich, ist immer gut drauf (was natürlich nicht stimmt, da man ihn sekundenlang auch schon ganz anders erlebt hat). Er wird in dieser Hinsicht nicht älter oder gar erwachsen, obgleich es schon mal in seinem jetzt 58-jährigen Leben Zeiten gegeben hat, in denen nicht sicher war, ob er denn überhaupt so alt oder gar noch älter werden würde.
Mit unverblümter Selbstverständlichkeit, mit unwiderstehlicher Attacke geht er öffentlich mit seiner medikamentös in Schach gehaltenen Krankheit um und lebt ebenso seine Sexualität. Und genauso, mit Temperament, Witz und unabdingbarer Tollkühnheit geht er künstlerisch zu Werke: sehr direkt, auch promisk auf Teufel komm‘ raus. Sein jüngstes Oeuvre: Eine Bühnenperformance mit dem Titel Why Wait?, ein burlesker, 20 Jahre verspäteter Nachruf auf das Ballett Frankfurt, der, Gott bewahre!, keinesfalls ein Nachruf auf dessen Spiritus Rector und Betreiber William Forsythe sein sollte. Deshalb also fragte sich Rizzi: Warum warten? – Wenn dann jetzt. Unter den sechs Mitwirkenden sind immerhin drei ehemalige Forsythe-Tänzer: Alan Barnes, Irene Klein und Tony Rizzi selbst.
In Why Wait? überschneiden sich Video und Live-Aufführung, und man möchte lachen und weinen zugleich. Es ist dieser aberwitzige Gruppentanz, die genialisch-verblödete Volkstanz-Persiflage des israelischen Volksliedes Hava Nagila, im Stück Bongo, bongo nageela genannt, die nicht nur Bill Forsythes Abendfüller Impressing the Czar beschließt. Tony Rizzi wählte diese genialisch-alberne Nummer, als Rundtanz aufgeführt von der ganzen Kompanie in Faltenröcken und blonden Bob-Perücken, für seine komische, aber auch sehnsuchtsvolle Film-Erinnerung und evoziert damit ambivalente Gefühle: höchste Euphorie über die ungeahnten Möglichkeiten des Balletts und Trauer über einen unwiederbringlichen Verlust.
Tony Rizzi, selbst Wahlfrankfurter, erarbeitete dieses Stück über William Forsythe und das Ballett Frankfurt mit seiner losen, in Frankfurt ansässigen Gruppe, die, wenn man ihn nur ein bisschen kennt, gewiss nicht zufällig „The Bad Habits“ heißt. Er selbst stieß zum Ballett Frankfurt im Jahr 1985, da war er 20, ein gleichsam knochenloser Gummimensch mit unverschämtem darstellerischem Talent. Und er blieb bis zum Ende der Kompanie im Jahr 2004. Rizzi legte in diesen Jahren ein Foto- und Video-Archiv an, das seinesgleichen sucht. Also hat er alles Material gleich bei der Hand, überschneidet in seiner Bühnenperformance Why Wait? Originalaufnahmen verschiedener Tanzszenen mit den von besagten Ex-Forsythe-Tänzerinnen und -Tänzern zwar nicht lückenlos erinnerten, aber live so gut wie möglich nachgetanzten Ausschnitten: Erinnerung als Prozess.
Bill Forsythe ist jetzt 74 und lebt in Vermont. Der Italo-Amerikaner Anthony Rizzi aus West Newton, Massachusetts, einem Vorort von Boston, als Tänzer Forsythes Assistent und später dessen künstlerischer Berater, ist 58. Forsythe und Rizzi stehen in Kontakt, teilen fast 20 Jahre einer gemeinsamen, ruhmreichen Vergangenheit. Und sie haben einen ähnlich skurril-verkorksten Humor.
Bill Forsythe hat 2004 mit dem Hintern eingerannt, was er 1984 ff. aufgebaut hat mit Kopf und Körper, seinem ungeheuren Wissen über Tanz und seiner Fähigkeit, eine Gruppe junger, neugieriger und unheimlich talentierter Tänzerinnen und Tänzer als endlich nicht mehr hierarchisch gestaffelte Ballettkompanie dank seines genialischen Oeuvres zu Weltruhm zu führen. Ganz nebenbei wurden beim Ballett Frankfurt Diversität und Gleichberechtigung völlig selbstverständlich gelebt – ein Ballet of difference, dem übrigens auch Richard Siegal angehörte, der seiner eigenen Kompanie die Diversität extra in den Titel schrieb.
Was Forsythe und Rizzi außerdem eint, ist, dass man beiden ein gewisses anarchisches Potenzial unterstellen könnte. Forsythes Proben jedenfalls waren, wenn die Erinnerung nicht täuscht, deshalb keineswegs chaotisch. Vielmehr lernte man im Ballettsaal zu begreifen, was den suspense seiner Choreografien und die Qualität seiner Arbeit ausmachte. Da war zum Beispiel dieser Vormittag, an dem die Gruppe, wie so oft, aufgefordert war zu improvisieren. Stephen Galloway setzte mit weitausgreifenden, pointierten Bewegungen zu einer atemberaubend kreiselnden Variation an. Bill Forsythe, der von seinen Leuten will, dass sie allzeit mitdenken und mitgestalten und nicht wie die Marionetten funktionieren, gefällt, was Galloway da machte, und er möchte das Ganze nochmal sehen. Aber: „without the big swing“. Das Fazit aus dieser nicht unwesentlichen Randbemerkung: die große Geste, Showtime ist manchmal, aber nicht immer gut, Wahnwitz erwünscht, körperliche Verausgabung hingegen bis zum Exzess vonnöten.
Tony Rizzi demonstriert in seinem assoziativen Bühnenexkurs Why Wait? die typische Forsythe-Bewegungsqualität selbst quasi als bildliche Randbemerkung: Er rundet seine Arme zum Port de bras ein bisschen weniger rund, dafür gespannter, und dabei weniger schwerelos als im klassischen Ballett. Falsch! Für die Dynamik einer (in sich bewegten) Forsythe-Pose ist die Streckung größer und die Spannung maximal, ohne dass diese verspannt aussähe. Bill Forsythe hatte eine genaue Vorstellung jedes Bewegungsdetails als Basis des süchtig-machenden Forsythe-Drive, des synkopierten Flow seiner zeitgemäßen Fortschreibung der Neoklassik. George Balanchine winkte aus dem Jenseits herüber als einer, der der Ballettgeschichte mit der Neoklassik ein entscheidendes Kapitel hinzugefügt hat. Forsythe hängte sein brandneues Kapitel an, schrieb Mr. B. fort. Dem ist im Ballett seitdem nichts Wesentliches und schon gar nichts Innovatives hinzugefügt worden.
Und das vermeintliche Chaos auf der Probebühne? Chaos gab es am Premierenabend. Denn nun, an einem festen unverrückbaren Datum in der Spielzeit eines Stadttheaters, wie es Oper und Schauspiel in Frankfurt waren, musste etwas nur vermeintlich Fertiges vor Publikum aufgeführt werden. Da ging dann der Lappen schon mal über einem bis zur letzten Sekunde geprobten, aber recht eigentlich unfertigen Bühnenereignis hoch, das Forsythe im Off mit seinen Anweisungen dirigierte, die nicht selten versehentlich auch im Zuschauerraum zu hören waren.
Das eine mal gelang ihm auf Anhieb Geniales wie Artifact, dann wieder eine unverständliche, derb krachlederne Kasperliade wie Robert Scott, ein Stück über das Scheitern des Polarforschers, das Forsythe schon zur zweiten Aufführung zu einer herzzerreißenden Elegie umarbeitete, begleitet von einem brandneuen Klangteppich, den, wie immer, der Komponist Thom Willems über Nacht herbeigezaubert hatte. Nein, keine dieser unauslöschlich im Gedächtnis der Betrachterin verankerten Episoden ist unter den Videos, die den live getanzten Szenen aus Forsythe-Choreografien gegenübergestellt sind, in Tony Rizzis Why Wait?. Kreiert anlässlich der Tanzplattform Rhein-Mai 2021, also zu den von Rizzi süffisant kommentierten Corona-Zeiten, wollte Rizzi nicht nur retrospektiv dokumentieren, was er selbst als einer der stilprägenden Tänzer mit oft genug verstörenden tänzerischen Kamikaze-Akten beitrug.
Warum also Warten? Why Wait? fragte sich Rizzi. Warten mit einem späten, aber keineswegs nostalgischen Resümee von zwei Jahrzehnten Ballettfortschreibung mit anderen Mitteln oder besser, einer atemberaubenden Tanzkunst-Revolution während der Jahre zwischen 1984 und 2004 in Frankfurt am Main. Es ist so: William Forsythe hat – selbst schöpferisch an der Kippe –, sein Werk, das Ballett Frankfurt, zerstört. Er wollte nicht mehr mit einer großen Kompanie von 36 Tänzerinnen und Tänzern weiterarbeiten, sondern mit einer kleinen Gruppe, die fortan als Forsythe Company zwischen Frankfurt und Dresden-Hellerau pendelte. Die städtischen Sparvorgaben, die die Auflösung der Sparte Ballett bis heute zur Folge hatten, kamen ihm da nicht ungelegen.
Der Rest ist Legende. Und eben nicht nur als Performance assoziativ wiederbelebt, sondern von Tony Rizzi in Schwarzweißfotografien dokumentiert, die bei DANCE ausgestellt werden. Die Tänzer und Tänzerinnen auf den Bildern scheinen in Bewegung zu sein und sind dabei gestochen scharf. Das kann wohl nur einem Tänzer gelingen, den richtigen Augenblick auszumachen und auf den Auslöser zu drücken. Rizzi, vor dem geistigen Auge mittanzend, kann das. Und wie!