Magazin #6: Records von Mathilde Monnier
Ein Tanzstück aus dem Lockdown
von Sandra Luzina
Eine weiße Wand spielt eine wichtige Rolle in Mathilde Monniers Tanzstück Records und wird zur Mitspielerin der sechs Tänzerinnen. Etwas mehr als zwei Meter hoch, steht sie im Hintergrund der Bühne; darüber sind Videoprojektionen des Himmels zu sehen. Mit diesem Setting reagierte Mathilde Monnier auf die Corona-Krise und etabliert eine besondere Perspektive – zwischen dem Offenen und Geschlossenen. „Es ist diese Beziehung, als würdest du nach außen schauen, aber du bist innen“. Ich habe versucht, diese Situation am Anfang ganz deutlich zu machen“, sagt sie.
Mathilde Monnier ist eine der prägenden Protagonistinnen des zeitgenössischen Tanzes in Frankreich. Sie leitete von 2013 bis 2020 das Centre national de la danse (CND) in Pantin. Danach brannte sie darauf, wieder mehr eigene Stücke zu kreieren – und wurde gleich durch die Pandemie ausgebremst. Die Idee zu der Performance Records entstand gegen Ende des ersten Lockdowns. In Frankreich waren die Regeln damals besonders strikt. „Wir durften uns nicht mehr als einen Kilometer von unserer Wohnung entfernen“, erinnert sich Mathilde Monnier. „Aber ich hatte die Chance, in mein Studio zu gehen. Montpellier ist eine kleine Stadt.“
Wegen der Kontaktbeschränkungen arbeitete Mathilde Monnier zunächst allein in ihrem Studio – so wie sie es zu Beginn ihrer Karriere oft tat. Als Künstlerin hat sie die erzwungene Isolation anfangs durchaus genossen. Sie hatte nun Zeit für Recherchen – und für ausgiebiges Musik-Hören. In dieser Zeit hat Mathilde Monnier die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan für sich entdeckt. Sie hat sich unterschiedliche Aufnahmen mit ihr angehört. Beim Hören eines 8-minütigen Ausschnitts aus der Oper Le Grand Macabre von György Ligeti mit Barbara Hanigan als Interpretin entwarf Monnier später eine erste kleine Choreografie. Ligetis Musik ist nicht mehr in dem Stück, Monnier hat sie ersetzt durch Luigi Nonos Monodie Djamila Boupacha für Sopran solo aus Canti di Vita e d'Amore.
Doch Mathilde Monnier ist keine Künstlerin, die die Einsamkeit braucht, um kreativ zu sein. Sie sei Choreografin geworden, weil sie gern mit anderen zusammenarbeitet, weil sie etwas teilen wolle, erzählt sie. Deshalb lud sie die taiwanesische Tänzerin I-Fang Lin in ihr Studio ein, um einige Ideen auszuprobieren. Im Mai 2020 entstand so das erste Bewegungsmaterial von Records. Die anderen Tänzerinnen stießen erst einige Wochen später dazu.
„Natürlich war die Atmosphäre der Corona-Pandemie sehr stark präsent“, erinnert sich Mathilde Monnier. „Also habe ich angefangen, mit der Wand in meinem Studio zu arbeiten. Ich habe Choreografien entworfen, in denen ich die Wand als Stütze und als begrenzten Raum benutzt habe.“
Als Folge der Pandemie sei der Raum plötzlich kleiner geworden, erläutert Monnier, denn keiner durfte reisen. „Deshalb beschloss ich, an dieser Idee zu arbeiten: Was ist unser neuer Raum für die Zukunft? Haben wir die gleiche Beziehung zum Raum? Werden wir den Raum wie bisher mit vielen Freiheiten nutzen? Oder müssen wir unser Verhältnis zum Raum ändern?“
Die sechs Tänzerinnen, die nacheinander die Bühne betreten, suchen nach ihrer Position, nach ihrem Zugang zum Raum. Sie probieren verschiedene Haltungen des Sitzens, Kniens, Liegens und Stehens aus. Es sind ganz einfache Bewegungen, die Mathilde Monnier hier einführt, so als wolle sie zum Nullpunkt des Tanzes zurückkehren. Manchmal verharren die Frauen länger als eine Minute in einer Haltung. Der Zustand des Wartens wird hier greifbar. Alle scheinen zum Nichtstun verdammt. Mathilde Monnier konfrontiert ihre Tänzerinnen mit der Leere, die viele in der Lockdown-Phase empfunden haben. Auch das Gefühl der Ungewissheit wird spürbar, als seien die Performerinnen aller Sicherheiten beraubt, aus allen Bezugssystemen gefallen. Der Gesang von Barbara Hannigan, der mit einem herzzerreißenden Aufschrei anhebt, reißt die Performerinnen schließlich aus ihrer Lethargie.
Immer mal wieder lehnt sich eine Tänzerin mit dem Rücken an die Wand an. Die Tänzerinnen erzeugen dann ihre eigenen Rhythmen, indem sie mit den Füßen gegen die Mauer tippen – wie bei einem Tapdance auf einer vertikalen Fläche. Die Szene sei aus dem Mangel geboren: „Wir hatten den Boden und die Wand – ich begann mit fast nichts“, erzählt Monnier. Das sei wie bei Kindern: Wenn ihnen langweilig sei, spielten sie mit dem, was sie gerade vorfinden.
Die rhythmischen Wiederholungen und Variationen gehören zu den eindrücklichsten Passagen des Stücks. Doch auch optisch sind die Szenen vor der Wand reizvoll, denn Monnier komponiert ein Fresko, sie spielt unterschiedliche Körperansichten durch und hebt zugleich die Individualität der gleich gekleideten Tänzerinnen hervor.
Alle tragen blaue Arbeitshosen zu Turnschuhen, ihr Oberkörper aber ist entblößt. Wenn Frauen barbusig auftreten, werde das meist als sexuelles Signal verstanden, erläutert Monnier. „Ich wollte nackte Brüste zeigen, ohne die Frauen zu sexualisieren, ich wollte einfach Tänzerinnenkörper zeigen.“ Die partielle Nacktheit lässt die Körper aber auch fragil erscheinen.
Während des Kreationsprozesses hatte Mathilde Monnier mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. „Alles war sehr chaotisch“, sagt sie. Sie war sich nicht sicher, ob das Stück seine Premiere erleben würde. Zwischendurch kam sie sich völlig nutzlos vor als Choreografin. Doch das Gefühl, dass ein effizientes Produzieren nicht möglich sei, hatte auch etwas Positives. „Wenn du ein Stück nicht fertigstellen musst, kannst du einfach experimentieren. Du bist viel freier im Kopf“, so Monnier. Dass sie den widrigen Umständen doch noch eine Tanzproduktion abgerungen hat, war für Monnier eine wichtige Erfahrung.
Seit die Corona-Beschränkungen aufgehoben sind, verblassten bei vielen auch die Erinnerungen an die Lockdowns. Sie waren froh, wieder zu einem Normalzustand zurückzukehren. Doch Mathilde Monnier stemmt sich gegen dieses kollektive Verdrängen, will nicht so schnell einen Schlussstrich ziehen: „Es war eine privilegierte Zeit, um zu entschleunigen, um innezuhalten und nachzudenken“. In ihrem Stück hält sie auf abstrakte Weise die körperlichen und emotionalen Zustände während der Pandemie fest. „All das, was geschehen ist und in vielleicht seltsamer Form wieder auftaucht. Alles, was im Körper auf unbewusste Weise aufgezeichnet wurde“, erklärte sie bei der Premiere in Montpellier im Oktober vergangenen Jahres
Darauf spielt auch der englische Titel Records an. Er bezieht sich auf Aufzeichnungen, Erinnerungen. Ihr habe die Vorstellung gefallen, das Erinnern neu zu organisieren, sagt Monnier. „Die Idee war, dass man etwas wieder und wieder tun muss, um sich zu erinnern. Repetition war wirklich wichtig für mich.“
In Records setzt Mathilde Monnier der formalen Strenge eine groteske Komik entgegen. Die Tänzerinnen flippen schon mal aus; toben über die Bühne und rufen dabei wow und yes. Sie muten wie Avatare aus einem Computerspiel an oder wie putzige Cartoonfiguren.
Sie wollte herausfinden, was uns hält und zurückhält, so bringt Mathilde Monnier die Arbeit an Records auf den Punkt. Wenn die Frauen am Ende zu den Klängen der Jazzrockband The Comet Is Coming tanzen, haben sie eine kathartische Erfahrung gemacht. Zugleich formuliert das Stück die Hoffnung, dass sie zu einem neuen Miteinander finden.