Die Geschichte des DANCE-Festivals: Zur Ausgabe Nr. 12
DANCE 2010 – TIMECODES
Rekonstruktionen von und Kommentare zu wichtigen Werken der Vergangenheit fügten sich mit aktuellen Produktionen zum Thema Zeiterfahrung und Erinnerung zu einem Festival produktiver Retrospektiven. Zum letzten Mal hatte Bettina Wagner-Bergelt die Leitung inne.
Bettina Wagner-Bergelt, die beim Bayerischen Staatsballett am Aufbau und der Pflege eines Repertoires der Moderne arbeitete, war als Festivalkuratorin mit der Vermessung und Vermittlung der Gegenwart betraut. Ihr Motto „TIME CODES“ sprach zum einen Orientierungssysteme an und gleichermaßen deren Relativität und Divergenz in Rezeptionsprozessen, bei „fremden“ Verfahren und unterschiedlichen Wertsystemen. Sie bot dabei ein Festival der Wiederbegenungen, der produktiven Retrospektive. Kein Widerspruch, denn die Kuratorin reagierte so auf die aktuellen Tendenzen zu Re-enactments, Revisonen und Wiederbezugnahmen im zeitgenössischen Tanz. Ohnehin ist die flüchtige Tanzkunst zugleich ein lebendiges Archiv, umso mehr, wenn stilprägende Ikonen der Kunstform weiter und wieder präsent sind. William Forsythes „Artifact“ von 1984 war ein Kommentar zur Kunstform und eine Dekonstruktion des Balletts und hatte – in der Einstudierung beim Bayerischen Staatsballett – keinerlei Staub angesetzt. Wieder zu Gast war die Kanadierin Louise Lecavalier: Die virtuose Protagonistin eines extrem physischen Tanzens zeigte am Eröffnungsabend im Carl-Orff-Saal ein neues, mit dem britischen Choreographen Nigel Charnock erarbeitetes Duett und ließ Tänze von Édouard Lock wieder aufleben, die sie früher in ihrer gemeinsamen Kompanie La La La Human Steps so gerne und intensiv getanzt hatte.
Von Rekonstruktion bis reflexiver Kommentar spannten sich die künstlerischen Strategien im Bezug auf exemplarische Werke, frühere Ästhetiken und generell kulturelle Vergangenheiten. Der Spanier Cesc Gelabert präsentierte in München bereits seine dritte Auseinandersetzung mit dem Choreographen Gerhard Bohner und rekonstruierte mithilfe von Originalrequisiten und einer historischen Video-Dokumentation dessen elementares, tänzerisch reflexives Solo „Schwarz Weiß Zeigen“ von 1983. Eszter Salamon re-inszenierte in ihrem „Dance for Nothing“ John Cages „Lecture on Nothing“ von 1949, indem sie den Text sprach und mit Bewegungen begleitete, die Cages künstlerischen Prinzipien des Zufalls und der unkoordinierten, getrennten Spuren (von Bewegung und anderer Medialität, hier: Sprache) folgten. Der Rekurs auf Cages Methode, kritisierte Eva-Elisabeth Fischer, sagt aber nur „etwas über die Struktur, nichts über die Qualität der Bewegung“ (Süddeutsche Zeitung, 6.11.2010). Janez Janša und Dušan Jovanovic zeigten zwei Versionen eines Schlüsselwerks gleichzeitig auf der Bühne. Jovanovic hatte 1972 mit „Monument G“ den Preis des Bitef Festivals in Belgrad gewonnen; diese neo-avantgardistische, postdramatische Inszenierung, die nicht auf Textkohärenz, sondern auf dem Atem der Performerin basiert, brachte er nun erneut auf die Bühne. Janša re-enactete die Performance mit einer Tänzerin und dokumentarischen Audio-Visuals und machte damit – simultan – mehrfache Zeitperspektiven und den Prozess der Aneignung zum eigentlichen Thema. Simone Sandroni war als Tänzer Gründungmitglied von Wim Vandekeybus’ Gruppe Ultima Vez, den Pionieren eines neuen, riskanten Physical Dance, bei dem Federn, Ziegelsteine und Menschen über die Bühne flogen. Nun widmeten sich Sandroni und Lenka Flory in einem Forschungsprojekt (auch zur eigenen Kompanieentwicklung) einer Neueinschätzung und einer reflektierten Praxis solch mittlerweile historischer Tanzkonzepte. Im ersten Anlauf fokussierte der erste Teil „Not made for flying“ den Begriffen „Boden“ und „Kontakt“.
Komplex sind die Bestimmungen des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit nicht nur im künstlerischen, sondern auch im biographischen, sozialen, politischen Bereich. Les SlovaKs, ein Kollektiv aus Ex-Schülern von P.A.R.T.S., entwickelten einen „New traditional dance“ und im Stück „Journey Home“ mittels individueller Improvisation und kollektiver Choreographie eine Reise zurück hinein in ihre slowakische Volkstanztradition und wieder heraus ins Heute. Bei Rachid Ouramdanes Solo „Loin“ führte die Reise nicht in eine exotische Ferne, sondern in die eigene Familienbiographie und die politische Geschichte Algeriens, Frankreichs und des Kriegs in Indochina. Südkorea und Japan bereisten David Brandstätter und Malgven Gerbes, performten auch dort und reflektierten sodann in „Notebook“ die Veränderung ihrer Wahrnehmung im Kontakt mit „fremden“ Bildern und anderer Kultur. Die in Vietnam aufgewachsene, in der französischen Theaterszene arbeitende Ea Sola thematisierte in ihrem Solo „Air Lines“ die Rolle von Begriffen wie Nation und Individuum in einer Welt voller Flüchtlinge.
Verschiedene Produktionen untersuchten die „bildnerischen“ und tänzerischen Mittel des Choreographischen in jeweils intensiver Fokussierung: Raimund Hoghe zelebrierte in „Boléro Variations“ mit seinen höchst individuellen TänzerInnen zu verschiedenen musikalischen Fassungen des Klassikers seine Poetik der Achtsamkeit, der Erinnerung und des Schreibens mit Körpern. „Ein Highlight“ und ein „strenges Zeitlupen-Exerzitium mit ganz eigener Spannung“ (Gabriella Lorenz, „Abendzeitung“, 30.10.2010). Eine Fotoausstellung von Rosa Frank im Gasteig brachte Hoghes sensible Momente und „Körperlandschaften“ nahe, eine Lecture Performance Hoghes Konzepte seiner Körper-Sprache. Das Berliner Duo WILHELM GROENER schaltete Posen als kunsthistorische, ikonische und rätselhafte Bildzitate hintereinander und transformierte sie so in Beziehungsbilder, auch wenn der Titel „Am Bildaltar“ nach alter und neuester Bildreligion roch. Ebenfalls eine Uraufführung lieferte die Münchnerin Sabine Glenz, deren Forschen an den medialen Formungen des Choreographischen in „Layers“ sich mit der Entkopplung von Sound, Licht, Bild, Bewegung beschäftigte. Stefan Dreher versuchte unter der Rotunde der Pinakothek der Moderne, Tänzerkörper in abstrahierte Bewegungs- und Bildmuster zu überführen.
Zum umfangreichen Begleitprogramm zählten neben Workshops und Talks sowie der Integration der Schulveranstaltungen von Iwanson International (Jessica Iwanson erhielt 2010 den städtischen Tanzpreis) zwei Symposien zu den Themen Wissenszugänge und Zeitprozesse. Und Helena Waldmann – mit ihrem Gespür für aktuell brisante Themen – schuf mit der Tänzerin Brit Rodemund in „revolver besorgen“ ein Porträt ihres dementen Vaters und ein Zeitbild zum Thema Vergessen. Eine weitere Uraufführung entsprach genau dem Festival-Motto: Der Münchner Tänzer und Choreograph Philip Bergmann befasste sich zusammen mit Mey Stefan mit dem Akt des Erinnerns, der auf der Basis ambivalenter Fragmente einen Entwurf in die Zukunft setzt: „sich erinnern heißt“, so Bergmann, „die Geschichte neu zu erzählen, neu zu kreieren.“ Die überbordende Simultaneität von Codes und gleichzeitigen Erlebnissen inszenierte als Premiere des Eröffnungsabends Richard Siegal und demonstrierte in der Muffathalle mit einer choreographierten großen Party und wilden Mischung – inmitten des Publikums – aus Stimmen, Gogo- und Folklore-Tänzerinnen, Schuhplattlern, Parkoursportlern, dass wir alle „Co@Pirates“ der Diskurse und in einem „Singulär-plural-sein“ Teilhabende der Gesellschaft sind.
DANCE 2010, 12. Internationales Festival des zeitgenössischen Tanzes der Landeshauptstadt München
Veranstalter: Kulturreferat der LH München, Kulturreferent: Dr. Hans-Georg Küppers, Abteilung 1 / Darstellende Kunst, Ansprechpartnerin: Dr. Daniela Rippl
Mitveranstalter: Spielmotor München e. V. in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsballett, Muffatwerk, i-camp / Neues Theater München, Iwanson-Sixt-Stiftung
Festivalpartner: Conseil des Arts et des Lettres du Québec, Goethe-Institut, Bureau du Theâtre et de la Danse, CULTURESFRANCE, Institut Français, Muffatwerk, Gasteig München GmbH, Münchner Stadtbibliothek, Tanztendenz München, Simone Schulte/Kulturbüro, Schoss Bröllin, L‘A (Rachim Ouramdane), Internationales Forschungszentrum Sound and Movement der Theaterwissenschaft München, BMW Welt, Pinakothek der Moderne, Allianz Kulturstiftung, European Cultural Foundation, NPN Nationales Performance Netz, Fonds Darstellende Künste, Kulturstiftung des Bundes
Künstlerische Leitung: Bettina Wagner-Bergelt
Dramaturgie: Sophie Becker
Spielorte: Muffatwerk (Muffathalle, Ampere), Gasteig (Carl-Orff-Saal, Black Box), i-camp / Neues Theater München, schwere reiter, Nationaltheater, BMW Welt, Pinakothek der Moderne
Festivalzentrum: Muffatwerk
Zeitraum: 22. Oktober bis 6. November 2010
Begleitprogramm: Lecture Performance von Raimund Hoghe im i-camp / Neues Theater München; Vortrag von Nele Hertling über Gerhard Bohner im Vortragsaal der Bibliothek am Gasteig;, Ausstellung „Körperlandschaften“ von Rosa Frank im Foyer des Carl-Orff-Saals; Symposium „Piraten unter uns – eine Kakophonie zum Wissensklau“ im Muffatwerk; Symposium „TIME CODES. Zeichen der Flüchtigkeit, Zeichen der Zeit“ im Ampere; Iwanson International – Junger Tanz im Gasteig; Filmprogramm „Erinnerung und Vergessen“ im Vortragsaal der Bibliothek am Gasteig; Interdisziplinäres Block-Kolloquium für Studierende der Theaterwissenschaft, der Akademie der Bildenden Künste und der Bayerischen Theaterakademie; Öffentliche Probe und Lecture Demonstration des Bayerischen Staatsballetts zu „Artifact“ in der BMW-Welt; Einführungen, Künstlergespräche und Filme nach den Vorstellungen; Eröffnungs- und Abschlussfest in der Muffathalle/Café
Von Thomas Betz
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